Die Schule entrümpeln, jetzt!
Eine polemische Einmischung zum Schuljahresbeginn

Eine andere Ökonomie ist möglich
Über fragile ökonomischen Systeme und deren Folgen für unsere Gesellschaft

Der Kandidat und die Transparenz-Gesellschaft
Über Transparenz und einen Satz Peer Steinbrücks

Hütet die Entdeckerfreude!
Über Lehrerstreiks und die Krise unseres Bildungssystems

„Herzlich, Ihr alter Strittmatter“
Über seine private Korrespondenz mit dem Schriftsteller Erwin Strittmatter, der heute 100 Jahre alt geworden wäre

Porträt des Dichters als schamanischer Flieger
Was uns Ted Hughes in seinen Essays verrät

Nach Regen duftendes Grün
Der schwedische Dichter Tomas Tranströmer wird Siebzig

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Die Schule entrümpeln, jetzt!
Eine polemische Einmischung zum Schuljahresbeginn

Zu diesem Thema wollte ich eigentlich nichts mehr sagen. Denn ich bin es leid. Es gibt nicht den geringsten Anhaltspunkt dafür, dass sich in der vermaledeiten Bildungspolitik dieses Landes und des Freistaates in den kommenden Jahren grundsätzlich etwas zum Besseren wenden wird. Denn man müsste damit anfangen, die Lehrpläne zu entrümpeln. Man müsste sich, ohne Rücksicht, von dem ganzen Ballast an Lehrstoff trennen, den diejenigen, die ihn täglich eingetrichtert bekommen, nie wieder in ihrem Leben brauchen werden. Man müsste wegkommen von diesem sinnlosen Bulimie-Lernen! Die Schüler also nicht mehr zwingen, möglichst viel in sich hineinzustopfen, damit sie es zur Prüfung unverdaut wieder ausspucken können. Man müsste die Unterrichtszeiten auf den Prüfstand stellen: Warum so unsinnig früh anfangen? Sollen Grundschüler wirklich im Winter in aller Herrgottsdunkelheit und mit überschwerem Ranzen schon in die Schule traben müssen? Die Forschung weiß es längst besser: frühes Aufstehen, sagt sie, kann sogar krank machen. Die innere Uhr von ca. 70% der Menschen sei so beschaffen, dass diese Menschen frühestens gegen 8 Uhr erst wirklich wach sind. Die Wirtschaft hat, mit flexiblen Arbeitszeiten, zum Teil schon darauf reagiert. Dort hat man offenbar ein Interesse an ausgeschlafenen, das heißt auch, gesunden und kreativen Menschen. Die Schulanfangszeiten scheinen dagegen in Deutschland wie in Stein gemeißelt.
Es ist aussichtslos. Man müsste wohl die gesamte Bildungsbürokratie zum Teufel jagen und wieder ganz von vorne anfangen, um wirklich etwas zu ändern. Denn seit Jahren wird nur an den Symptomen herumgedoktert. Wird erklärt, was alles und warum nicht geht. Und ständig werden neue Entschuldigungen dafür vorgebracht, warum es nicht einmal gelingt, das Selbstverständliche bereitzustellen. Schulbücher zum Beispiel. Ich bin noch in der DDR zur Schule gegangen. Eine ideologische, vom Staat gelenkte Beschulung, voller Zwänge. Klar: möchte man nicht zurück haben. Aber ich kann mich nicht erinnern, dass bei uns einmal die Schulbücher fehlten.
Die Schülerzahlen sind im Wachsen begriffen, die Politik, die lange beklagte, dass in Europa keine Kinder mehr geboren würden, zeigt sich plötzlich erstaunt, dass so viel Nachwuchs in die Schulen drängt. Man ist alles andere als vorbereitet. Kaum ein Politiker, der nicht davon schwafelt, man müsse "mehr in Bildung investieren." In diesen Tagen beginnt der Wahlkrampf. Ich fürchte, die Sprüche auf den Wahlplakaten, denen man nicht entgehen können wird, werden an Einfallslosigkeit wieder einander zu überbieten versuchen. "Deutschland döst", titelte eine große deutsche Zeitung voller Vorfreude. Achten Sie, liebe Leser, in den folgenden Wochen mal darauf, wie die Parteien mit dem Thema Bildung zu punkten versuchen. Die fehlenden Schulbücher werden bis zur Wahl schon gedruckt sein, aber das reicht nicht. Oder?
Der sogenannte "Pisa-Schock" vor gut 15 Jahren - in der gleichnamigen Studie war an die Adresse Deutschlands vor allem das zu große Abhängigkeitsverhältnis von sozialer Herkunft und Bildungschancen kritisiert worden - hatte zwar dazu geführt, dass es Stück für Stück ein wenig besser wurde. Aber die Entwicklung stagniert inzwischen wieder, Deutschland hängt, hinter Ländern wie Singapur, Japan, Finnland, Australien und Großbritannien im gesichtslosen Mittelfeld fest.
Die Schüler wissen natürlich, was wir ihnen antun. Ein 12jähriges Mädchen sagte kürzlich zu mir: "Das bringt doch nichts, das hat doch mit echtem Lernen nichts zu tun. Etwas auswendig können heißt doch noch lange nicht, es auch wirklich zu verstehen!" Ich glaube, die meisten jungen Erwachsenen erinnern sich noch gut daran, was Lernen einmal für sie gewesen ist. Damals, bevor die Schulkrake sie sich gegriffen hat, bevor man damit anfing, sie mit totem Lehrplanwissen zu traktieren. Sie haben sich - mehr denn je in der heutigen vernetzten Welt - eine Vorstellung von kreativem Zusammenwirken bewahrt. Und die versuchen sie nun andernorts zu leben: nach der Schule und ohne uns, vor ihren privaten PCs, im Freundeskreis. Irgendwann werden zumindest die Besten von ihnen uns überholen - und werden die Sache hoffentlich dann nicht mehr mit der Floskel abtun: "Bei uns war es auch nicht besser, wir mussten ja auch den ganzen Mist schlucken, bevor wir alles wieder vergessen durften." So, wie wir es heute tun, indem wir ihnen dicke Lehrpläne stricken und das mit gutem Lernen gleichsetzen. Aber gutes Lernen braucht Zusammenhang, braucht Freiräume und vor allem: Zeit zum Nachsinnen, ohne Stress. Oder wollen wir gar nichts anderes, als nur brave Staatsbürger heranziehen, die nichts mehr hinterfragen? Und die auf Wahlwerbung, die volltönend nur Bildung anpreist, ohne zu sagen, was sie darunter versteht, hereinfallen?
Sachsen schreibt, was Bildung und Schule betrifft, jedenfalls mehr denn je in diesen Tagen negative Schlagzeilen. Man hat plötzlich bemerkt, dass es zu wenig Lehrer gibt. Also sucht man händeringend welche. Sogenannte Seiteneinsteiger sind, neben Absolventen aus Bayern, die zuhause keine Stelle bekommen haben, zur Zeit das Allheilmittel. Die zuständige sächsische Ministerin erklärte, es sei "schwerer als in den Jahren zuvor, für jede Klasse einen Lehrer zu finden." Zu finden! Das klingt dann doch mehr nach Lotterie als nach einem guten Plan.
Was mich wirklich ärgert ist, dass das "Wie" des Unterrichtens - die Qualität der Schule, die wir unseren Kindern anbieten wollen - bei all diesen Debatten nur eine untergeordnete Rolle zu spielen scheint. Im Gegenteil: einige Behörden entfalten eine wahrlich beachtliche Verhinderungsenergie, um das, was es an interessanten und lebhaften Schulprojekten immerhin schon gibt, verbieten zu lassen. Die in Dresden-Klotzsche ansässige Natur-und-Umweltschule (NuS) kämpft seit nunmehr sechs Jahren um ihre Genehmigung. Sie hat auch für das neue Schuljahr seitens der zuständigen Behörde nur eine "Duldung" erhalten (was gleichbedeutend ist mit: kein Geld). Die ersten Schülerjahrgänge, die an dieser Schule einst Lesen, Schreiben und Rechnen lernten, besuchen heute sächsische Gymnasien. Aus dem Umfeld hört man, beim Wechsel dieser Schüler an andere Schulen habe es weder Eingliederungsprobleme noch Leistungseinbrüche gegeben. Viele von ihnen verfügten zudem über eine beachtliche soziale Kompetenz. Man fragt sich, wo hier das Problem ist?
Mir fällt auf, dass gerade vieles, was vor hundert Jahren schon einmal aufkochte, wieder akut zu werden scheint. Im Dresdner Schulmuseum kann man sich darüber informieren, mit welcher Begeisterung um 1920 herum viele Volksschullehrer und zum kleineren Teil auch Gymnasialpädagogen sich für eine neue Schule einsetzten. Sie hatten von der lebensfremden "Paukschule" genug, sie wollten mehr schulische Selbstverwaltung und, vor allem, Lehrplanfreiheit, um besser auf die Interessen und angelegten Begabungen der ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen eingehen zu können. Heute gewinnt die Idee einer Neuen Schule, früher bekannt unter dem Begriff Reformschulbewegung, wieder an Bedeutung - gewiss auch, weil in unserem System so einiges festgefahren ist.
Zum Schuljahresbeginn starten in Sachsen 6 neue Schulen in privater Trägerschaft. Sie gesellen sich zu heute so bekannten und beliebten Einrichtungen wie der 1992 gegründeten Freien Alternativschule, der Laborschule in Gorbitz, der Christlichen Schule Dresden in Zschachwitz oder der Freien Montessorischule Huckepack. Damit wir uns nicht falsch verstehen: es geht hier nicht darum, freie Schulen gegen staatliche in Stellung zu bringen. Jede Schule, welche ihren Schülern dabei hilft, zu freien Persönlichkeiten heranzuwachsen, ist gut und wichtig. Man sollte den Freien nur die gleichen Chancen einräumen, ihre Idee von Schule in die Tat umsetzen zu dürfen. Und ihnen nicht das Leben schwer machen. Die Reformschulbewegung kam auf, weil offensichtlich etwas faul war mit der Schule im Staate. Heute sind wir, scheint es, wieder an diesem Punkt angekommen: die Schule, ein starrer und schwerfälliger alter Tanker, den man als Schüler nur mit Widerwillen besteigt. (Klar, ist nicht überall so.)
Wer ehrlich ist, muss sich doch die Frage stellen, warum Elterninitiativen sich freiwillig all den Ärger aufbürden, den eine Schulneugründung mit sich bringt. Warum sie Kraft, Geduld, Freizeit dafür opfern, etwas Neues zu gründen. Vielleicht, siehe oben.
Das Problem ist aber gar nicht das Problem. Schlimm wird es nämlich erst dann, wenn man die Augen davor verschließt. Und wenn man denen, die mit großem Engagement versuchen, Schule aktiv mitzugestalten, den Mut zu nehmen versucht. Dann ist, finde ich, ein Aufschrei fällig.
Sagen wir so: vielleicht sollten Eltern, Lehrer und Schüler in Sachsen und darüber hinaus einer verfehlten Bildungspolitik gegenüber vorerst auch nur eine Duldung aussprechen. Denn: "So geht Sächsisch - aber Schule geht so nicht!", wie ein erzürnter Familienvater mir auf Facebook schrieb.
(In: Sächsische Zeitung v. 9. August 2017)

 

Eine andere Ökonomie ist möglich
Volker Sielaff über fragile ökonomische Systeme und deren Folgen für unsere Gesellschaft

Der englische Schriftsteller Graham Greene hat es einmal den menschlichen Faktor genannt. Wir verhalten uns anders gegenüber jemandem, den wir kennen, als gegenüber jemandem, der uns fremd ist. Das Problem dabei ist, dass sich menschliche Kategorien nur schwer bemessen lassen. Viele ökonomische Theorien, eigentlich alle, gehen deshalb von anonymen Handelspartnern aus. Es wird gar nicht erst gefragt, in welchem Verhältnis Partner A zu Partner B steht: Verwandtschafts-, Freundschafts- oder sonstige Beziehungen sind nicht relevant - weder in den großen Wirtschaftstheorien noch in den Prüfverfahren der Betriebswirte. Das aber könnte sich als ein großer Mangel erweisen, zumindest wenn wir verstehen wollen, warum unsere Gesellschaft sich gegenwärtig in einer Krise befindet.
Früher gab es in kleinen Läden die berühmte Kreidetafel. Ein Händler gab jemandem Kredit, weil man einander kannte. Ich kann mich noch erinnern, dass es in der Kleinstadt, in der ich aufgewachsen bin, Vertrauensbeziehungen zwischen den Leuten gab: beim Bäcker bekam ich das Brot umsonst in die Hand gedrückt, weil man wusste, in welche Familie ich gehörte. Und meine Mutter, wenn sie einmal nicht genug Geld im Portemonnaie hatte, konnte beim Bäcker oder beim Fleischer später zahlen; man gab ihr Kredit.
Kredit ist ein Wort, das auch bei David Graeber vorkommt, der ein exzellentes Buch über die Geschichte der Schulden geschrieben hat ("Schulden - Die ersten 5000 Jahre", Klett-Cotta, Stuttgart 2011). Er nennt solche auf Vertrauen basierenden Geschäfte "humane Ökonomien". Bei den Tiv, einer Stammesgesellschaft in Zentralnigeria, zahlt ein Ehemann als Brautablöse an die Familie der Braut Walzähne, Kaurimuscheln oder Vieh. Doch soll mit solch einer Brautablöse keine Schuld bezahlt, sondern im Gegenteil nur ausgedrückt werden, dass eine Schuld besteht, die sich gerade nicht in Geld ausdrücken lässt. Die Vorstellung, dass sich, mit welchen Dingen auch immer, ein Menschenleben aufwiegen lassen könnte, ist einer humanen Ökonomie fremd.
Graeber stellt in seinem Buch die humane Ökonomie dem heutigen Schuldhandel, den man als eine Verwandlung der Welt in Zahlen sehen kann, gegenüber. Wir leben heute in einer Gesellschaft, die bis in den letzten Winkel durchökonomisiert ist und die ihr Geschick ausschließlich unpersönlichen kommerziellen Märkten überlässt. Es ist eine Gesellschaft, die jegliche Beziehung zum Kreislauf des Lebens verloren hat. Denn ist es nicht so, dass wir alle manchmal, bis hinein in privateste Bereiche, kühl unsere "Marktchancen" berechnen? Gibt es nicht sogar für die persönlichste aller denkbaren Beziehungen, die Liebe, heute einen "Markt"? Und muss sich das nicht letztlich auf unseren Umgang miteinander, unser Denken von der Welt, auswirken - nicht zum Besten, wie anzunehmen ist?
Der Handel mit Nieren aus der dritten Welt floriert und ist nicht verboten! Wer Geld hat, aber kein Kind bekommen kann, darf über eine Leihmutter nachdenken (die nichts anderes sein kann als eine Frau, der nach der Geburt ihr Kind weggenommen wird). Das Fernsehen, auch das öffentlich-rechtliche, ist vollkommen abhängig von Quoten. Und geht nicht sogar der subventionierte Kulturbetrieb nur allzu oft nach Brot, nicht selten gezwungenermaßen, weil die, die ihn subventionieren, sich ja auch über gute Zahlen freuen? Machen wir uns nichts vor, wir stecken bis zum Hals in der Falle des Merkantilismus, und es würde uns guttun, wieder zweckfreier zu denken.
Graeber, das ist in diesem Zusammenhang wichtig, ist von Haus aus Anthropologe. Er dürfte also recht genau wissen, wie der Mensch den aufrechten Gang geübt hat. Den unpersönlichen Märkten, wie sie weithin bestehen, stellt Graeber die humanen Ökonomien gegenüber, welche "die Handlungsmotive der Menschen für höchst komplex" halten. Damit ist nichts anderes gemeint, als die ganz normale Undurchschaubarkeit von Beweggründen. Man weiß nie ganz genau, welche Gefühle jemanden zu einer bestimmten Handlung veranlasst haben. So ist unser Alltag - und humane Ökonomien haben diese Dinge immer mit auf der Rechnung. Ihnen fehlt "die Vorstellung, dass das eigennützigste Motiv zwangsläufig das eigentliche sei".
Verhaltensforscher haben längst herausgefunden, dass, bei Tieren nicht anders als bei Menschen, die Empathie oftmals stärker ist als der Egoismus. Dass der Mensch vor allem ein egoistisches Wesen ist, ist eine recht veraltete Vorstellung, einigen jedoch immer noch billig genug, um damit die Alternativlosigkeit des Kapitalismus zu begründen. Auch die moderne Philosophie, etwa eines Emmanuel Levinas, spart ethische Fragestellungen nicht aus. Aber der ethische Aspekt entfällt immer dann, wenn es, wie in der Logik unpersönlicher Märkte, möglich wird, einen Nachbarn wie einen Fremden zu behandeln.
Die Menschen, das ist Graebers wichtige Grundannahme, leben in diversen, unendlich komplexen Beziehungsnetzen mit anderen. Und nur dann, wenn man sie aus diesen Netzen herausreißt, ist es möglich, sie auf eine handelbare Sache zu reduzieren. Mithilfe der Technik hat die Moderne komplexe, auf die Spieltheorie zurückgehende Systeme konstruiert, die sich beispielsweise die Finanzbranche schnell zunutze machen konnte. Doch ist das tückische an diesen Systemen, dass sie regelmäßig und klar definiert sind, also gerade nicht mit Abweichungen rechnen, wie sie immer dann, wenn Menschen miteinander interagieren, vorkommen. Ist es nicht erstaunlich, dass unser Glaube an statistische Modelle, ebenso wie unser Vertrauen in die technische "Vollkommenheit", beinahe grenzenlos ist?
Wie könnten nun mögliche Wege aussehen, aus dem Glauben an fragile Systeme heraus- und in lebendige Beziehungsnetze wieder hinein zu kommen? Die Arbeitsteilung, wie wir sie von unpersönlichen Märkten kennen, setzt im Grunde die Überwindung von Zeit und Raum voraus. Sie kann nur funktionieren, wenn im großen Stile gehandelt wird - ansonsten würde bald die Nachfrage nicht mehr ausreichen. Diese Überwindung von Zeit und Raum ist aber äußerst ressourcenintensiv: die Äpfel, die wir im Supermarkt kaufen, müssen aus Australien herangekarrt werden, die Lieferketten für viele Waren sind lang und energieintensiv. Wir könnten also fragen, ob es nicht eine Nummer kleiner geht. Beispiele solchen lokalen Handelns gibt es schon heute. Die mancherorts bereits eingeführten regionalen Komplementärwährungen können diese Prozesse durchaus unterstützen, da sie die Wertschöpfungskette verkürzen.
Ein Anfang wäre zudem, das Gewinnstreben in bestimmten Bereichen zu verbieten: Krankenhäuser, öffentlicher Verkehr und Bildung sollten nicht kommerzialisiert werden dürfen. Es ist auch zu fragen, ob es nicht ein staatliches Vorrecht auf Geldschöpfung geben sollte. Und man wird über eine Neudefinition des Arbeitsbegriffs nachdenken müssen. Der Mensch verschwindet immer mehr aus den lebendigen Produktionszusammenhängen, seine Arbeit wird von Automaten übernommen oder in immer mehr Teilaufgaben zerlegt, was zu mangelnder Identifikation mit den Arbeitsprozessen führt. Und ob ein teurer und energiefressender Automat wirklich billiger kommt als eine bezahlte Arbeitskraft, sei einmal dahingestellt.
Was geschieht eigentlich, wenn Arbeit dermaßen abstrakt wird? Was ist ab wann eine Leistung, die bezahlt werden muss (etwa, wenn jemand seine Angehörigen pflegt)? Das sind Fragen, die Modellen wie denen von Leihfirmen und ähnlichen Erfindungen einer neoliberalen Ökonomie, die Lohnkosten von Arbeitnehmern weiter zu drücken, gegenüberstehen. Was die Schulden angeht, so schaue man nach Island. Dort hat es das Volk per Volksentscheid abgelehnt, die Schulden der Banken zu begleichen. Graeber schlägt in seinem Buch einen Weg vor, der uns auf den ersten Blick befremdlich vorkommen mag: "Ein genereller Schuldenerlass wäre nicht nur heilsam, weil er menschliches Leid lindern könnte. Er riefe uns auch in Erinnerung, dass Geld nichts Geheimnisvoll-Unvergleichliches ist und dass das Begleichen von Schulden nicht das Wesen der Sittlichkeit ausmacht.

Volker Sielaff, Lyriker, Kritiker, Kolumnist und Literaturveranstalter, lebt in Dresden. Zuletzt erschien von ihm der Gedichtband "Selbstporträt mit Zwerg", Verlag luxbooks Wiesbaden 2011. (in: Sächsische Zeitung v. 12. März 2013)

 

Der Kandidat und die Transparenzgesellschaft
Volker Sielaff über Transparenz und einen Satz Peer Steinbrücks

Nun hat er seinen ersten dummen Satz gesagt, der Kanzlerkandidat der SPD für die Bundestageswahl 2013. In einem Radiointerview mit dem Deutschlandfunk sprach er folgende Sentenz ins Livemikrofon seines Interviewers Peter Kapern: "Ich glaube, dass es Transparenz nur in Diktaturen gibt." Das Wort kommt aus dem Lateinischen, von "transparens", "durchscheinend". Man könnte es, je nach Kontext, auch mit "Durchschaubarkeit", "Verständlichkeit" oder "Anschaulichkeit" übersetzen. Der österreichisch-britische Philosoph Karl Popper prägte in seinem 1945 erschienenen Buch "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde" den Begriff von der - in der Tradition des Liberalismus stehenden - "offenen Gesellschaft", worunter eine für Veränderungen offene, die Würde des Menschen wahrende Gesellschaft zu verstehen ist, eine, in der es allen Mitgliedern gleichermaßen gegeben ist, ihr kreatives wie kritisches Potential freizusetzen. Eine Gesellschaft ohne Machtmissbrauch und mit optimaler Gewaltenteilung. Dazu im Gegensatz sah Popper einerseits die "Laissez-Faire-Gesellschaft" (der wir uns heute bedenklich annähern) sowie die von einem kollektivistischen Denken geleitete "geschlossene Gesellschaft", die Herr Steinbrück für so wunderbar transparent hält.
Ich habe über zwanzig Jahre in der DDR gelebt: das war eine oft biedere, bürokratische, kleinliche Gesellschaft, eine Gesellschaft mit beschränkter Meinungsfreiheit und erkauften Karrierechancen, dies und das und alles Mögliche war die DDR, aber eines war sie bestimmt nicht: eine transparente Gesellschaft. Es war eine Gesellschaft, in der das Wort "Nische" eine besondere Bedeutung hatte. "Nische", das war der je eigene Rückzugsort, der private Raum, der nicht selten auch ein geistiger Raum war oder notgedrungen wurde, weil in der Öffentlichkeit Selbstzensur aus Gründen des Selbstschutzes an der Tagesordnung war. Offen gab man sich im Freundeskreis, offen in seiner Haltung, zum System beispielsweise. Offenheit ist aber das Gegenteil von Transparenz. Transparenz, im Sinne von Überwachung (Steinbrück verwechselt scheinbar das eine mit dem anderen), mag ein Ideal der Machthaber gewesen sein, das sie jedoch nie auch nur annähernd erreichten: häufig scheiterten sie an der Widerborstigkeit ihrer "Staatsbürger", die es sich nicht nehmen ließen, in erster Linie Menschen zu bleiben - und die schon ihre Möglichkeiten hatten, die Tücken des Systems zu unterwandern. Es gab, metaphorisch ausgedrückt, diverse Masken, die man sich im Bedarfsfall aufsetzte, es gab List. "List besser als Gewalt", hat schon Nietzsche geschrieben.
Das Wort Maske meinte ursprünglich persona, die Person. Sie ist also weder durchscheinend noch eindimensional. Die Person im lateinischen Verständnis ist kompliziert, sie hat Tiefe, sie zeigt sich nicht unverhüllt, sondern in vielen Verwandlungen, Masken. Transparent zeigt sich nur eine "Intimgesellschaft", die von "narzisstischen Intimsubjekten bewohnt wird", wie der Deutsch schreibende, in Seoul geborene und heute an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe lehrende koreanische Philosoph Byung-Chul Han in seinem Buch "Transparenzgesellschaft" erläutert, das dem Herrn Bundeskanzlerkandidaten wärmsten zur Lektüre anempfohlen sei. Er wird dann lernen, dass die Forderung nach Transparenz immer dann aufkommt, wenn es kein Vertrauen mehr gibt. In Byung-Chul Hans Buch ist allerdings wenig von der DDR oder gar von Nordkorea die Rede, und viel von unserer heutigen, gut ausgeleuchteten "Positivgesellschaft", die er an anderer Stelle auch eine "Ausstellungsgesellschaft" nennt: "Die glänzende Oberfläche ist auf ihre Weise transparent."
Steinbrück, und das ist der Vorwurf, den man ihm für seine unbedachte Äußerung machen muss, lenkt von den Problemen unserer Gesellschaft ab, um die er sich, sollte er gewählt werden, ja zu kümmern hat. Er sieht offenbar nicht, dass wir in einer viel transparenteren, die Person und alles Intime auflösenden Gesellschaft leben als je zuvor. Werden wir nicht alle ständig dazu angehalten, glänzende Oberfläche zu sein? Auf dem Arbeitsmarkt genauso wie in sozialen Netzwerken? Ist nicht jeder Einzelne längst sein eigenes Werbe-Objekt, dem beständigen Druck ausgesetzt, sich positiv zu präsentieren, sich vorteilhaft darzustellen? In der Sprache der Servicebranche treibt dieser Zeitgeist bisweilen seltsame Blüten: in einem Zug der Deutschen Bahn hörte ich eine Lautsprecherdurchsage, die zu einem Besuch des Bordrestaurants einlud mit den bemerkenswerten Worten: "Wir kochen für Sie mit professioneller Selbstverständlichkeit." Ich habe bis Berlin darüber nachgedacht, was sich hinter "professioneller Selbstverständlichkeit" wohl verbergen mag - und lieber doch nur ein Kännchen Tee bestellt.
Es geht hier nicht einmal um Steinbrücks Bezüge, seine Vortragshonorare, von denen freie Autoren, die im Gegensatz zu Herrn Steinbrück oft davon leben müssen, nur träumen können. Es geht darum, dass gerade unsere jetzige Gesellschaft in ihrem Kern von einem "Pathos der Transparenz" erfasst ist, deren Symptom unter anderem die beschleunigten Kreisläufe des Kapitals sind, die uns in die gegenwärtige Krise geführt haben. Es war eine rot-grüne Bundesregierung, welche im Jahre 2004 Hedge-Fonds per Gesetz erlaubte, freilich unter der Bedingung, dass Anbieter ihre Verkaufsprospekte mit folgendem Hinweis versehen müssen: "Der Bundesminister der Finanzen warnt: Bei diesen Investmentfonds müssen Anleger bereit und in der Lage sein, Verluste des eingesetzten Kapitals bis hin zum Totalverlust hinzunehmen!" Klingt ein bisschen wie "Vorsicht, Rauchen gefährdet Ihre Gesundheit."
Per Steinbrücks Äußerung zur Transparenz war nicht minder unbedacht wie der Satz von Frau Merkel, das eine bestimmte politische Entscheidung "alternativlos" sein könne. Möglich, dass ihm der Satz von der Transparenz ebenso lange anhängen wird, wie Frau Merkel der ihre. Sprache sagt immer auch etwas über den Menschen aus, der sie spricht. Über sein Denken und seine Haltung. Wir sollten genau hinhören, nicht nur, weil im nächsten Jahr gewählt wird. Gewählt wird ja eigentlich immer.

Volker Sielaff

 

Hütet die Entdeckerfreude!
Volker Sielaff über Lehrerstreiks und die Krise unseres Bildungssystems


Ein dreijähriges Kind hat, so haben Hirnforscher herausgefunden, täglich etwa 50 - 100 Begeisterungsmomente. Kleine Stürme der Emotionen, bei denen das Hirn eine Art Dünger ausschüttet. Dann lernt das Kind etwas, das es nicht so schnell wieder vergisst. Vielleicht niemals. Echtes Lernen - darüber herrscht in der Forschung heute absoluter Konsens - hat mit Begeisterung zu tun. Mit Entdeckerfreude. Wir brauchen uns diese Entdeckerfreude bei unseren Kindern nicht zu wünschen. Wir müssen sie ihnen nicht erst antrainieren: sie haben sie von Anfang an. Wir sollten allerdings aufpassen, dass wir sie ihnen nicht wieder abtrainieren. Dass sie ihnen dort, wo sie hingehen sollen, um weiter Entdeckungen zu machen, nicht genommen wird - in der Schule.
Es steht zu befürchten, dass genau das passiert - wenn wir so weitermachen wie bisher. Wenn wir an einem starren Bildungssystem festhalten, anstatt den Raum für Neues zu schaffen, eben: selbst ein wenig weiter zu lernen. Denn nicht nur unser Finanz- und Wirtschaftssystem, auch unsere Schule ist offensichtlich in einer Krise. "Im Eimer", wie der 2007 verstorbene Schriftsteller Walter Kempowski ihr in einem seiner letzten Interviews bereits vor Jahren attestierte. Und Kempowski war einer, der es wissen musste. Er kam sozusagen aus der Praxis: über 20 Jahre war Kempowski Grundschullehrer. In der alten Bundesrepublik. Übrigens ohne Lehrpläne und Schulbücher zu benutzen. Der Mann versuchte, für seine Schüler eigene Methoden des Lesen- und Schreibenlernens zu entwickeln. Die individuelle Förderung seiner Schutzbefohlenen war ihm wichtiger, als von praxisfernen Kultusbehörden ersonnene Lehrpläne. Ein freier Lehrer an einer staatlichen Schule. Das gibt es heute auch noch. Aber wo es das gibt, ist es die Ausnahme. Nicht die Regel.
Ich finde, freie Lehrer sollten wieder die Regel werden. Entspannt euch, möchte man Schuldirektoren ebenso wie Kultusbürokraten zurufen. Ihr könnt nichts falsch machen, auch wenn ihr die Lehrpläne mal nicht bis ins kleinste Detail vorgebt oder umsetzt. Denn das Wichtigste ist, dass unsere Kinder zur Kreativität erzogen werden. Dass das Flämmchen, das ohnehin in ihnen brennt, nicht von euch, durch euch, ausgeblasen wird. Mir ist schon klar, dass das alles nicht so einfach ist. Weil man damit autoritäre Positionen in Zweifel zieht, Überkommenes hinterfragt. Eine Schule ohne Noten? Unmöglich! Lernen im Freien und ohne Zwang? Aber was, wenn es regnet? Hier sind nun vor allem jene gefragt, die ebenfalls merken, dass etwas im Argen liegt: die Eltern. Ich bin nämlich überzeugt, dass die entscheidenden Impulse in Sachen Schule in den nächsten Jahren nicht von den Kultusbehörden, sondern von den Bürgern kommen werden. Von Eltern, die nicht mehr mit ansehen können, dass das Schönste und Beste aufs Spiel gesetzt wird: die Fähigkeit ihrer Kinder, mit Freude und Kreativität der Welt zu begegnen, in der sie leben. Ihnen geht es da gar nicht so anders als den Lehrern. Sie stehen vor dem gleichen Scherbenhaufen: unnütze Vorgaben von oben und ein Leistungsdruck, der nur auf Abrechenbares zielt. Aber was verschenken wir an Kreativität, die unsere Gesellschaft so dringend braucht, wenn z.B. einer nicht Arzt werden kann, nur weil er schlechte Noten in Geografie oder Sport hat? Was bringt es uns, wenn wir den Notendurchschnitt eines Abiturienten zum allfälligen Kriterium seiner Begabung für einen bestimmten Berufsweg machen?
Es ist richtig, dass in Dresden so viele Lehrer wie nie zuvor auf die Straße gehen, um gegen Lehrermangel, Stundenausfall und überfüllte Klassenzimmer zu demonstrieren. Es ist richtig, dass die Menschen wütend reagieren, wenn - wie gerade in Seifhennersdorf - eine Schule geschlossen werden soll, nur weil die amtlich vorgeschriebene Schülerzahl in einem Jahrgang eine Differenz von zwei (!) Schülern aufweist. Und es ist richtig, dass die Dresdner es sich nicht bieten lassen, dass der Freistaat eine freie Grundschule schließt, deren Konzept allseits gelobt wird (die Natur- und Umweltschule in Klotzsche).
Wir sollten aber auch nicht vergessen, dass es letztlich nicht der Ausfall von Schulstunden ist, der aus unseren Schülern heute lustlose Pflichterfüller macht, sondern das, was der Bildungsforscher Burkhard Kahl treffend "Bulimie-Lernen" nennt. Die Schüler werden genötigt, sich kurzfristig Wissen anzufressen, um es pünktlich zu den Klausuren wieder ausspucken zu können. Und danach vergessen sie alles wieder.
Wenn sich, wie im Fall der Natur- und Umweltschule geschehen, parteienübergreifend Politiker, Gewerkschaften und Elternvertreter für den Erhalt einer Schule stark machen, so ist das ein positives Signal, das zeigt, wie es auch funktionieren kann. Die Schülerzahl an dieser freien Schule hat sich mittlerweile verdoppelt, im Haus und auf dem "Waldplatz" herrscht reges, fröhliches Treiben, ich habe es mir angesehen und hatte ein gutes Gefühl.
Ich habe mir auch die Kundgebung der Lehrer am vergangenen Freitag vor dem Sächsischen Landtag angesehen und mich bis zu dem Absperrgitter der Polizei durchgedrängelt. Unter den Menschen, die abgeschirmt auf den Stufen des Landtages standen und sich den Protestierenden immerhin zeigten, sah ich auch Thomas Colditz, den gerade von seinem Amt als bildungspolitischer Sprecher zurückgetretenen CDU-Politiker. Ich kenne ihn persönlich nicht, aber ich ziehe den Hut vor diesem Mann. Seine Forderung, so viele Lehrer einzustellen, wie wir benötigen, anstatt lediglich so viele, wie wir uns leisten können, ist vernünftig: weil sie Bildung nicht als rein fiskalische Angelegenheit betrachtet, sondern als nicht verhandelbare Notwendigkeit, mit der eine Gesellschaft sich für die Zukunft rüstet.
Es gibt einen schönen Spruch: Kultur rechnet sich nicht. Auch Bildung rechnet sich nicht. Jedenfalls nicht, wenn wir sie auf ein Nullsummenspiel reduzieren. Wir werden uns in den kommenden Jahren fragen müssen, was für eine Schule wir eigentlich wollen. Wir: Politik, Lehrer, Eltern und Schüler. Es sollte eine offene Diskussion stattfinden, ohne fiskalische Bedingungen. Den protestierenden Lehrern vor dem Sächsischen Landtag wird es nicht ausschließlich um ihre eigenen monetären Interessen gegangen sein. Da ist wohl dieses Gefühl, dass es auch um die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft geht. Bildung muss mehr sein als ein Lippenbekenntnis von Politikern. Colditz hat recht, wenn er sagt: "Schule hat stattzufinden, aus. Solange das klappt, sind die Leute zufrieden."
Wenn einem aber zum Beginn eines Schuljahres zunehmend Geschichten von zu langen Schulwegen, fehlenden Lehrkräften und vollen Klassen zu Ohren kommen, fragt man sich eben auch als nicht selbst Betroffener, was da denn eigentlich los ist im Staate Sachsen. Und PISA ist eben nicht alles. Der Philosoph Byung-Chul Han, Autor des Buches "Müdigkeitsgesellschaft", berichtet, dass in der "Leistungsgesellschaft" Südkoreas die Zahl von Schülerselbstmorden rasant in die Höhe schnelle. Der Druck auf die jungen Menschen sei einfach zu gross (auf die Älteren nicht minder). Die PISA-Noten südkoreanischer Schüler sind allerdings Spitze. Fragt sich nur, ob wir das wollen. In Deutschland, so Han, sei es noch nicht ganz so schlimm.
Vielleicht müssen wir zuerst einmal die Frage, wofür wir unsere Kinder bilden (und nicht "ausbilden") wollen, ehrlich beantworten. Oder anders und mit dem Soziologen Oskar Negt gesagt: "Für nicht-demokratische Gesellschaftsordnungen reicht es aus, wenn das ganze Wissenschafts- und Bildungssystem darauf abgestellt ist, den leistungsbewussten Mitläufer mit den nötigen Qualifikationen auszustatten. Der Bildungsbegriff, der für eine demokratische Gesellschaftsordnung erforderlich ist, hat eine ganz andere Qualität."

Volker Sielaff

 

„Herzlich, Ihr alter Strittmatter“
Volker Sielaff über seine private Korrespondenz mit dem Schriftsteller Erwin Strittmatter, der heute 100 Jahre alt geworden wäre


Ich habe diese Briefe seit vielen Jahren nicht mehr gelesen. Der erste trägt das Datum „6. Juli 1982“, der letzte wurde am 24. Juni 1990 von Dollgow aus abgeschickt. Begegnet sind wir uns nur einmal, nach Strittmatters Lesung aus dem zweiten Teil des „Laden“ im Alten Rathaus zu Leipzig. Im März 1987 muss das gewesen sein. Ich wartete, bis er alle Signierwünsche erfüllt hatte, die Techniker waren schon dabei, die Tonanlage abzubauen, da ging ich zu ihm und stellte mich vor. Er begrüßte mich mit den Worten: „Na, hast ja lange nicht geschrieben“, und was wir dann miteinander sprachen, war nicht von Belang. Zudem war ich wohl derart aufgeregt, daß mir die Worte stockten. Am 2. April 1987 schrieb er mir dann, beinahe entschuldigend: „Das Messe-Lesen in Leipzig war nicht die geeignetste Gelegenheit, sich persönlich bekannt zu machen. Da ist man verausgabt nach allen Richtungen hin; da wird man in Verlegenheit gebracht; Menschen, die man vor vielen Jahren mal gesehen hat, meinen, man müßte sie wiedererkennen.“

Vielleicht hätte ich ihn einmal besuchen sollen, das habe ich mich jedoch, auch aus Respekt vor seiner kostbaren Zeit, nie getraut. Auf einer meiner Tramptouren an die Ostsee kam ich durch Gransee, die Kreisstadt, die in seinen Büchern gelegentlich auftaucht. Ein Autofahrer, der mich und einen Freund in seinem Skoda mitnahm, sagte, Ja, der Strittmatter, der wohne hier, aber der sei ein rechter Kauz. In Lychen besuchte ich eine Brieffreundin, verschüttete im Dorfkrug ein großes Glas Limonade und später, auf einem seeuntüchtigen Kahn im Schilf, küsste ich sie.

Im Buchregal meiner Tante hatte ich Eva Strittmatters „Briefe aus Schulzenhof“ entdeckt. Ich muss 14 oder 15 gewesen sein, mit Abenteuer- und Tiergeschichten wollte ich mich nicht mehr begnügen. Es verlangte mich allmählich nach „Erwachsenenliteratur“. Ich weiß noch, daß ich eines Tages „Stephen der Held“ aus dem Regal meines Bruders zog und in einem Atem durchlas. Eine Ausgabe des Verlages Volk & Welt, blassgrauer Schutzumschlag, auf dem groß der Name JOYCE prangte. Das Buch faszinierte mich, obwohl ich kein Wort von dem verstand, was darin verhandelt wurde. Aber jetzt war ich infiziert und las fortan beinahe wahllos, was mir zwischen die Finger kam. Das Verständliche war mir so recht wie das Rätselhafte. Eva Strittmatters Briefe lasen sich im Vergleich zu Joyce angenehm flüssig. Es war darin viel vom Schriftstellerleben die Rede, und besonders gefiel mir die Person des scheinbar immer in seiner Schreibstube hockenden oder durch Wälder reitenden Hausherren. Doch der kam nicht selbst zu Wort, denn die Briefe schrieb ja seine Frau. Was seine Anwesenheit für mich aber eher noch verstärkte. Strittmatter kam mir vor wie eine ungeheuer präsente Romanfigur. Schreib ihm doch einen Brief, sagte meine Tante.

Alles begann mit einem Telegramm, das meine Tante Rosi mir nach Bad Elster schickte, wo ich einige Ferienwochen bei meinem Vater und seiner zweiten Frau verbrachte: „Päckchen von Strittmatter“ stand dort. Ich wollte sofort abreisen, entschied mich aber für eine Schamfrist von zwei Tagen und fuhr erst dann ab. Das Päckchen enthielt den ersten Brief und zwei Bücher Strittmatters, den dritten Band des „Wundertäter“ und die „Selbstermunterungen“, beide Bücher vom Autor signiert.
Ich kann es anders nicht sagen: für einige Jahre wurde Strittmatter mein Held. Aber ich frage mich sogleich, ob das so stimmt. Eher wohl war er eine Art Lehrer für mich, der mir fortan in langen, maschinegetippten Briefen (und manchmal auch auf handschriftlichen Postkarten) ausführlich über sein Schreiben Auskunft gab, über die Hürden, die man als Schriftsteller in der DDR nehmen musste, bis ein Buch das Licht der Welt erblicken konnte. Oder der mir Bücher zur Lektüre empfahl, etwa Paustowskis „Die goldene Rose“, aus dem ich „etwas über die inneren Gesetze des Schreibens erfahren“ könne. Im Winter, an einem Sonntagnachmittag auf dem Marktplatz von Plauen / Vogtland, fand ich das Buch in der Kiste eines Trödlers, trug es mit mir wie einen Schatz durchs Schneegestöber und fing in meinem Wohnheimzimmer sofort an zu lesen. - Ich vertraute mich ihm auch an, als meine Mutter (viel zu früh) starb. Er vermochte wahrhaft Trost zu spenden, erging sich nicht in Floskeln, sondern gestand seine eigene Ohnmacht dem Tod gegenüber ein: „Wenn meine Freunde trauern, meine Frau oder meine Söhne, fühle ich mich ohnmächtig.“ - „Trauer ist wie eine Körperwunde. Sie muß aus sich und von innen heraus heilen.“

Erwin Strittmatter war ein Schriftsteller fürs Volk. In seinen Äußerungen gibt es beinahe Züge eines Kultes des einfachen Menschen. Allem Bürgerlichen mißtraute er zutiefst – und lebte doch quasi bürgerlich in der DDR. Mit Günter Grass konnte er ebensowenig wie mit Stephan Hermlin. Über Strittmatters Verhältnis zu diesen beiden bedeutenden Kollegen gibt die soeben von Annette Leo im Aufbau-Verlag erschienene Strittmatter-Biografie trefflich Auskunft. In einem meiner Briefe sprach ich Erwin Strittmatter auf ein deutsch-deutsches Schriftstellertreffen für den Frieden an, nachdem mir ein Dokumentenband zu diesem Treffen in die Hände geraten war, erschienen in einem Westverlag (sic!). In seinem Brief vom 18. April 1983 antwortet mir Strittmatter: Ja, er habe an diesem Treffen teilgenommen. Er habe dort aber nicht gespochen: „Ich hielt es für nutzlos. Ein gedrucktes Protokoll von dieser Veranstaltung wird es nicht geben. Ich bin fast froh darüber, weil sich dort einige Schriftsteller aus Ost und West produzierten und weniger den Frieden als die Befriedigung ihrer Eitelkeit im Auge hatten.“
Im Mai 1987 stand ich ganz im Zauber meiner Lektüre von Christa Wolfs „Kassandra“ und der dazugehörigen Poetikvorlesungen. Zugleich las ich Karl Kerényis Studien zur Griechischen Mythologie. Ich träumte mich an die Wiege der Europäischen Kultur. An Strittmatter schrieb ich, daß ich dieses Land sehr gern einmal besuchen würde - leider liege es jenseits der Möglichkeiten eines nicht privilegierten DDR-Bürgers. Der „alte Strittmatter“ (so unterzeichnete er inzwischen den einen oder anderen Brief) antwortete mir am 15. Mai 1987: „Weshalb sollten Sie nicht nach Griechenland fahren? Sie sind so jung noch.“

Drei Jahre später sollte ich eines sehr frühen Morgens, von einem Eukalyptusduft geweckt, auf dem Deck eines Fährschiffes erwachen, das mich und einen Freund von Ancona (Italien) nach Patras (Griechenland) brachte. Ich dachte auf dieser Reise einige Male an Strittmatter, in dessen Bücher ich nur noch selten hineinschaute; es gab viel Anderes nachzuholen nach 1989. Auf eine Frage wüßte ich gern die Antwort: hat Strittmatter in Slowenien, in Griechenland getötet?

Wie Strittmatter später mit seinem Freund Peter Jokostra alias Ernst Knolle, einem Dichter, mit dem ihm eine enge Freundschaft verband, umging, wie er getreu der damals herrschenden Parteilinie versuchte, dessen Werk als „dekandent“ bzw. „Dekadenzliteratur“ einzustufen, oder soll man sagen: herabzuwürdigen, das hat mich enttäuscht.
Im Sommer 1990 haben wir, Strittmatter und ich, uns gegenseitig voneinander verabschiedet: ich, weil ich spürte, daß das Lehrer-Schüler-Verhältnis, das uns band, seinem Ende zuging; er, weil er das wohl verstanden hat. „Herzlich, sehr herzlich, Ihr Erwin Strittmatter“ steht unter seinem letzten Brief.

 

Porträt des Dichters als schamanischer Flieger
Was uns Ted Hughes in seinen Essays verrät


Ted Hughes war Student der Anglistik in Cambridge, als jene Geschichte sich ereignete. Als Student hatte er jede Woche einen Essay abzuliefern, und wieder einmal hatte der junge Dichter sich "festgefahren", wollte es einfach nicht recht weitergehen mit dem Schreiben. Es war nicht das erste Mal, dass ihm so etwas passierte. Erschöpft und ohne wesentlich vorangekommen zu sein, legte er sich in den frühen Morgenstunden schlafen. Da erschien ihm der Fuchs im Traum: Körper und Gliedmaßen des Tieres schienen "gerade eben einem Brennofen entronnen..., jeder Zentimeter war geröstet, schwelend, schwarzgekohlt, aufgebrochen und blutig." Auf dem Tisch lag noch immer das leere Blatt Papier. Der Fuchs legte seine blutige Hand darauf; es war eine Menschenhand. Der Realitätseindruck dieses Traumes sei so vollkommen gewesen, würde Ted Hughes vierzig Jahre später schreiben, "daß ich aufstand, um nach den Papieren auf meinem Tisch zu schauen, sicher, den blutigen Abdruck dort auf der Seite zu sehen". Heute ist der Traum vom "verbrannten Fuchs" Legende. Der Fuchs sollte fortan Ted Hughes Schicksalstier werden, und mehrmals noch würde er sich zurückmelden, als "Sinnfuchs" in dem gleichnamigen berühmten Gedicht (The Tought-Fox), oder als leicht mirakulöse Erscheinung in dem Text "Epiphanien" aus seinem letzten grossen Gedichtzyklus, den "Birthday Letters".
Lässt man seinen Blick über das Inhaltsverzeichnis eines Lyrikbandes von Ted Hughes schweifen (auf Deutsch ist 1998 "Der Tiger tötet nicht" erschienen), wird einem vielleicht zuerst auffallen, wie viele seiner Gedichte Tiernamen im Titel tragen. Da gibt es den "Tiger-Psalm", den "Grünen Wolf", gibt es weiter Bär, Jaguar, Henne und Biene, und allerlei Arten von Vögeln dazu: Krähe, Abenddrossel, Seeschwalbe. Soviel Getier in einem Lyrikband hat natürlich seine Gründe.
Ted Hughes ist in der Provinz West-Yorkshire aufgewachsen, inmitten reicher Natur. Von seinem älteren Bruder hat er das Jagen gelernt, und mit einem selbstgebastelten Netz aus Vorhangstoff ist er in den Flüssen der Gegend fischen gegangen. Diese frühen Prägungen ebenso wie seine später deutlich sich wandelnde Einstellung zum eigenen mörderischen Tun ("ich warf mir vor, das Leben der Tiere zu zerstören"), sollten sich auch bald auf seine Poetik nachhaltig auswirken. Die Konzentration etwa des Anglers, der stundenlang nur auf einen reg losen Schwimmer zu starren imstande ist, korrespondiert für Hughes mit dem Sich-Einlassen des Dichters auf den Gegenstand des Gedichts. Auf der anderen Seite der Medaille steht aber das, was Ted Hughes den Ruf einbrachte, er schreibe eine "Lyrik der Gewalt" und sei ein Immoralist. In England rankte sich um diesen lächerlichen Vorwurf eine ganze Debatte. Ted Hughes hat in einem Interview dazu Stellung genommen. Eine Drossel, die einen Wurm findet und tötet, so verteidigt er seine Poetik, "ruhe... im Gesetz", an diesem Punkt "entpuppe sich das, was die Kritiker Lyrik der negativen Gewalt nannten, als Lyrik positiver Gewalt, als Lyrik über das Wirken göttlicher Gesetze in Kreaturen". Genau darum geht es Huges. Die Kunst, so hat er oft gesagt, habe unsere Sinne wieder auf das Eigentliche zu lenken - und damit eben auch auf die gewaltigen und gewaltsamen Energien, die jeder Natur, der menschlichen auch, innewohnen. Schreiben bedeutet für ihn somit auch, zu heilen.
In seinem Nachwort bemerkt Herausgeber Claas Kazzer, dass man diese Essays des Dichters Ted Hughes durchaus als "künstlerische Autobiografie" lesen könne. Dem versucht Kazzer mit seiner Anordnung der Texte zu entsprechen. So sind die Teile Eins und Zwei im Wesentlichen autobiografisch. Erst mit Teil Drei kommt die Dichterin und Lebensgefährtin Ted Hughes, Sylvia Plath, ins Spiel. Hughes lernte sie nach seinem Examen 1956 kennen und lebte, bis zu ihrem frühen Selbstmord im Februar 1963 mit ihr zusammen. Sein Text zu den Ariel-Gedichten der Plath, genau zwei Jahre nach ihrem Tod entstanden, liest sich wie eine posthume Liebeserklärung. Kein Zweifel, dass er sie für eine bedeutende Dichterin hielt. Aber er rühmt nicht nur ihre Gedichte, denn die "sind wie sie. Alles, was sie tat, war wie Ariel, und Ariel ist wie sie - nur, daß die Gedichte bleiben." In solchem Licht betrachtet, diskreditieren sich die Vorwürfe einiger radikaler Feministinnen, Ted Hughes trage die Schuld am Selbstmord der Plath, gleichsam von selbst. Daran glaubt wohl auch in Amerika heute niemand mehr. Nach dem Tod der Sylvia Plath entbrannte ein heftiger Streit um ihren dichterischen Nachlass, in dem es allerdings mehr um die unterschiedlichsten Formen von Begehrlichkeit ging, denn um die Gedichte selbst. Auch zu diesem Trauerstück kann man, in einem Artikel, den Ted Huges für den "Observer" geschrieben hat, nachlesen; solcherlei Dinge dürften heute indes bestenfalls Plath-Experten noch etwas angehen. Interessanter liest sich da schon der Essay "Über Sylvia Plath" aus dem Jahre 1994, in dem Hughes die engen Wechselbeziehungen zwischen Sylvia Plath´ Roman "Die Glasglocke" und den Gedichten ihres "Ariel"-Zyklus ein wenig zu erhellen versucht. Beide, Roman wie Gedichtzyklus, seien aus "der selben Imagination" gereift: ohne "Glasglocke" kein "Ariel", so die These. Um eine eher sachlich-fundierte Aufarbeitung von Literaturgeschichte geht es auch im vierten Teil (mit Essays zu Shakespeare, Dickinson und Eliot), bevor sich mit Teil Fünf der Kreis schliesst und der Dichter gewissermassen wieder pro domo spricht. "Du hast einen Geist gefangen, ein Geschöpf", hat er in einer seiner populären Schulfunksendungen für die BBC einmal gesagt; und meinte damit - nein, kein Tier -, sondern ein Gedicht. Etliche Seiten später, im Text "Regenerationen" dann erklärt uns Ted Hughes, wie man Gedichte vorzutragen habe, nämlich eigentlich so, dass auch die Geister sie irgendwie verstehen könnten. (Womöglich haben die Schauspieler in den griechischen Amphitheatern so ihre Stücke gespielt, Liturgien gleich, ekstatisch und ohne jegliche Betonung. Fast roboterhaft.) Ted Hughes: "Ob wir es gut finden oder nicht, wir müssen uns damit ab finden, daß wir etwas anrufen, wenn wir Gedichte oder stilisierte Prosa vortragen." Irgendwie hat Ted Hughes den Faden nach West-Yorkshire, wo er mit seinem Bruder fischen und jagen ging, auch als Dichter nie fallen gelassen. Damals begab er sich auch auf die "Suche nach Gedichten mit langen Zeilen" und fand zunächst Kiplings etwas plumpes "tum-ti-ti- tum-Metrum", eine King-James-Bibel und "Ossians Wanderungen" von W.B.Yeats. Seine Englischlehrerin machte ihn mit Hopkins und Eliot vertraut, und der junge Hughes "erkannte schon etwas in den Gedichten, das ich unbedingt wollte". In Essays wie "Das poetische Ich" und "Regenerierungen" denkt er über den "schamanischen Menschentypus" nach. Die "Initiationsräume, das generelle Schema des schamanischen Fluges... sind kein schamanisches Monopol, tatsächlich sind sie die Grunderfahrung jenes poetischen Temperaments, das wir romantisch nennen." Yeats war für ihn solch ein dichtender Schamane. Dessen ganzes Werk habe den "Gesichtern des Sioux-Schamanen Schwarzer Elch näher" gestanden "als irgendeinem Bezugspunkt in der politischen oder gar poetischen Tradition Westeuropas." In seinem letzten grossen Werk, den "Birthday Letters", taucht das Fuchsbild wieder auf. Hughes ist gerade Vater geworden. Eines Tages, beim Gang über eine Brücke, wird ihm von einem Fremden ein Fuchsjunges angeboten. Aber er lehnt dieses Angebot der Wildheit ab und geht weiter. "Hätte ich begriffen, daß ein Fuchs für alles steht / Was eine Ehe auf die Probe stellt und sie als Ehe erweist -, / Ich wäre nicht gescheitert. Wärst du es? / Aber ich versagte. Unsere Ehe hatte versagt." So endet das Gedicht. Er hat es "Epiphanie" genannt. Denn für einen Schamanen ist ein Fuchs nie nur ein Fuchs.

Volker Sielaff

Ted Hughes: Wie Dichtung entsteht. Essays. Ausgewählt und übersetzt von Jutta Kaußen, Wolfgang Kaußen und Claas Kazzer. Insel Verlag, Frankfurt 2001. 291S., 20,00 Euro.

 

 

Nach Regen duftendes Grün
Der schwedische Dichter Tomas Tranströmer wird Siebzig


Letzten Sommer wurde ich gefragt, ob ich nicht Lust hätte, mich während eines internationalen Dichterfestivals um ein paar meiner Kollegen zu kümmern. Ich bekam den Auftrag, sie, die fremd in der Stadt waren, ein wenig herumzuführen. Am ersten Tag des Festivals trafen sie dann, aus allen Richtungen kommend, am Veranstaltungsort ein, und wenigstens zweimal konnte ich das mir schon bekannte Ankunftsritual beobachten: man verlangte sogleich an der Bar nach einem doppelten Espresso.
Ich kann die Zeilen heute auswendig: "Im Tageslicht ein Punkt von einem wohltuenden Schwarz, / das schnell in einen bleichen Gast ausfließt. // Er ähnelt den Tropfen aus schwarzem Tiefsinn, / die bisweilen von der Seele aufgefangen werden, // die einen wohltuenden Stoß geben: Geh! / Inspiration, die Augen zu öffnen."
In Paris kann man sie ja, vorzugsweise um die Mittagszeit, in großer Zahl beobachten: die Espressotrinker, die sich nach der Mahlzeit noch eben diesen kleinen "Stoß" verschaffen wollen. Dort zelebrieren sie ihre Pause vor aller Augen, rauchend zumeist und die Zeitung lesend. Aus diesen und einigen anderen Gründen ist das "Espresso"-Gedicht aus meinem privaten Vorrat an zeitgenössischen Gedichten nicht mehr wegzudenken, und es ist für mich ein gleichermaßen "kostbarer, aufgefangener Tropfen" wie der Inhalt der kleinen Tasse in dem schönen Gedicht von Tomas Tranströmer (es findet sich in seinem dritten, 1962 in Schweden publizierten Band "Der halbfertige Himmel").
Aber es gibt bei Tranströmer nicht nur den Espresso, es gibt nicht nur dieses Espresso-Schwarz. Seinen Gedichten entströmt manchmal auch ein frisches, nach Regen duftendes Grün. Es gibt Boote und Bootsstege und inmitten der schwedischen Schärenlandschaft immer wieder auch das lyrische Ich des Träumers und Elegikers Tranströmer. Im Gegensatz zu seinem großen Antipoden Lars Gustafsson dürften ihn die Strukturalismusdebatten der 60er und 70er Jahre kaum erreicht haben; sie sind zumindest für seine Lyrik folgenlos geblieben.
Ist es altmodisch, in einem Gedicht Ich zu sagen? Tranströmer steht in der Tradition der Surrealisten (die es in den 20er Jahren auch in Skandinavien gab), in seinen frühen Gedichten sprudelte es nur so aus ihm heraus. Eine Not, die in eine Tugend zu wandeln ihm bald gelang (auch wenn er sich skeptisch dazu äußert, ob das seinem alten Lateinlehrer, welchem er immerhin die Kenntnis antiker Strophenformen verdankt, jemals zu Ohren gekommen ist).
Indes: "In diesem Wechselspiel zwischen dem Klapprig-Trivialen und dem Federnd-Sublimen lernte ich eine Menge", rückt Tranströmer im Nachhinein das leidige Durchackern lateinischer Dichtung ins rechte Licht. "Es waren die Bedingungen der Poesie", sagt er. "Es waren die Bedingungen des Lebens. Durch die Form (DIE FORM!) konnte etwas angehoben werden.
Die Raupenfüße waren weg, die Flügel entfalteten sich." Ja, die Flügel. Diese Flügel sind es, die den Dichter Tranströmer von einer dann doch oft als beengt empfundenen wirklichen Welt entheben. Und so pathetisch es klingen mag: bei ihm ist die Poesie kein Spiel und auch keine Pose, sondern ein, wenn man so will, notwendiger Gegenentwurf zur würdelosen Welt der Fakten. Auch dafür gibt es einen Beleg, denn schon früh ließ sich der junge Tomas viel eher von seinen Sinnen als vom Logos leiten: eine Filialbibliothek seiner Heimatstadt Stockholm zog er der ehrwürdigen Hauptbibliothek vor, weil es in jener, die Wand an Wand mit einem öffentlichen Badehaus lag, nach Chlordampf roch und er die von Ferne widerhallenden Stimmen der Badenden hören konnte! "Der Spiegel sieht nur mein letztes Gesicht, ich spüre all meine früheren", wird er viele Jahre später in seinem autobiografischen Buch "Die Erinnerungen sehen mich an" schreiben. Es gibt also nicht bloß den Espresso, es gibt auch die Gefühle bei Tomas Tranströmer. Und die drängen - poetisiert! - in seine wunderbaren Gedichte wie Wasser in ein leckes Schiff. Als Psychologe hat Tranströmer in sogenannten "sozialen Krisenmilieus" gearbeitet. Von der Einsamkeit ist oft die Rede in seinen Gedichten; in der Natur scheint sie erträglicher als in den modernen Städten. Schon als Kind zog es Tranströmer in die Natur. Er sammelte Insekten, vor allem Käfer. Er besaß ein Spannbrett für Schmetterlinge und größere Vorräte an insektentötendem Essig-Äther. Auch wenn er nach wenigen Jahren diese Leidenschaft der Schriftstellerei opferte (er wäre sonst womöglich der zweite große Schriftsteller-Entomologe neben Vladimir Nabokov geworden), die Kästen mit den präparierten Insekten aus Kindertagen hat er heute noch. Und einige Insekten durchziehen als Metapherntiere jetzt seine Verse. Zum Beispiel das Espresso-Gedicht, siehe oben, beginnt so: "Der schwarze Kaffee auf der Terrasse / mit Stühlen und Tischen prächtig wie Insekten." Am heutigen Ostersonntag wird Tomas Tranströmer siebzig Jahre alt. Es ist anzunehmen, daß man seine Gedichte noch lesen wird, wenn die trockenen Insektenkörper in den Kästen längst zu Staub zerfallen sind.


Volker Sielaff